Manche Eltern suchen mich mit der Frage auf, ob das Verhalten Ihres Kindes noch „normal“ sei, oder aber eine (psychologische) Intervention, eine Therapie oder eine „Behandlung“ notwendig ist, und das kindliche Benehmen einem Störungsbild zuzuordnen sein könnte. Häufig betrifft diese Frage den Bereich der Verhaltensauffälligkeiten.
Aber, …
wie definiert sich „normal“, und wie breit ist das Spektrum des Normalen?
Ist der zappelige Junge in der Grundschule normal, der sich lieber bewegen will und mit den Händen lernt, als dem Frontalunterricht zu lauschen?
Ist ein Kind normal, welches eher unaufmerksam und verträumt scheint?
Ist ein Kind normal, das schnell prügelt oder andere Kinder beschimpft, weil es noch keine anderen Strategien zur Frustbewältigung erlernt hat?
Das Kind, welches handelt, ohne nachzudenken und im Schulunterricht ständig stört? Ist das Mädchen normal, das eher ängstlich und schüchtern ist?
Ist ein Kind normal, wenn es lieber allein spielt als mit anderen?
Wann verwechseln wir „normales“ kindliches Verhalten mit angepasstem oder erwünschtem Verhalten?
Der Normbereich im Bereich von Begabung / Intelligenz lässt sich recht gut mithilfe etablierter Methoden wie der Intelligenzdiagnostik definieren. Für kindliches Verhalten stellt sich der Sachverhalt komplizierter dar. Gibt es relevante Dimensionen, mit denen man Verhalten kategorisieren kann und mit denen sich einordnen lässt, wann eine Störung vorliegt?
Typische Kriterien für ein psychisches Störungsbild innerhalb der gängigen Klassifikationssysteme ICD (International Classification of Diseases and Related Health Problems) oder DSM (Diagnostic and Statistical Manual) sind
- sie dauern über einen längeren Zeitraum an
- sie verursachen Leiden
- sie beeinträchtigen das tägliche Leben
- sie sind nur eingeschränkt willentlich zu steuern
Einschränkend ist hier anzumerken, dass die Diagnose in „gesund“ oder „krank“ bzw. „Störung ja / nein“ in der Realität als ein kontinuierliches Spektrum zu interpretieren ist, und so nicht ausreichend durch die harte Einstufung „Störung ja / nein“ beschrieben werden kann.
Was bedeutet es nun, wenn mein Kind „ADHS hat“? Wer leidet darunter, und wessen Leben wird dadurch beeinträchtigt? Der Heilpädagoge Henning Köhler sieht die Zusammenfassung bestimmter Symptome oder Merkmale zu abstrakten diagnostischen Sammelbegriffen wie Störung des Sozialverhaltens, depressive Verstimmung oder Angststörung, usw. kritisch. Dies könnte zu dem Trugschluss verleiten, eine universell anwendbare Patentlösung zur Behebung der „Störung“ zur Hand zu haben, manchmal sogar in Form einer Medikamentengabe, damit sich das Kind wieder „normal“ verhält. Köhler betont, dass der seelisch leidende Mensch ja gerade kein reparaturbedürftiges Objekt ist, sondern ein erlebendes und fühlendes Subjekt, welches nach Zugehörigkeit und Liebe strebt – und zwar ohne Bedingungen, ohne sich anstrengen zu müssen, und ohne erst etwas leisten zu müssen, um geliebt zu werden.
Das Grundbedürfnis nach Liebe und Verbundenheit spielt in den ersten Lebensjahren eine herausragende Rolle. Mit fortschreitendem Alter gewinnen weitere Grundbedürfnisse, nämlich jene nach Autonomie und Kompetenz, zunehmend an Bedeutung, bis sie schließlich ebenbürtig nebeneinander existieren. Wird nur ein Grundbedürfnis verletzt, beginnt das Kind zu leiden und entwickelt Kompensationsmechanismen, um das Leiden erträglicher zu machen. Beispielsweise verschließt sich das Kind zunehmend, oder es zeigt andere Verhaltensauffälligkeiten wie Aggressivität oder Impulsivität. Als Konsequenz daraus könnte dem Kind unter Umständen eine „Störung“ attestiert werden.
Verhaltensauffälligkeiten haben sehr oft einen komplexen Entstehungshintergrund. Bei ADHS beispielsweise geht man heute von einer gewissen genetischen Veranlagung aus, die jeweilige Ausprägung wird jedoch stark durch Umwelt- und psychosoziale Faktoren beeinflusst. Hier ist Zeit und Geduld erforderlich, um nicht nur die Symptome zu beheben, sondern die Ursachen zu ergründen und auch das Umfeld des Kindes in den Blick zu nehmen.
Kann es sein, dass das Kind, welches zappelig oder aggressiv ist, einerseits Zuwendung und Bindung sucht und andererseits Orientierung, klare Regeln und Strukturen benötigt?
Fragen wir uns häufig genug, welche Bedürfnisse des Kindes gerade unbefriedigt sind, bevor wir schimpfen oder strafen? Sind wir als Eltern emotional ausreichend verfügbar für unsere Kinder? Und sehen wir die Stärken unserer Kinder und das, was an ihnen liebenswert ist?
Eine liebevolle Zuwendung kann zwar nicht jedes Störungsbild auflösen und nicht jede Verhaltensauffälligkeit kompensieren, jedoch hilft es Ihrem Kind sehr, wenn es weiß, dass Sie zu ihm stehen und es gelungen finden, mit genau den Eigenschaften und Begabungen, mit denen es geboren wurde.
Quellen:
Hüter, G. (2021). Lieblosigkeit macht krank
Köhler, H. (2022). Schwierige Kinder gibt es nicht
Kölch, M., Rassenhofer, M., & Fegert, J.M. (2020). Klinikmanual Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie