Wann beginnen wir, Fehler an unseren Kindern zu finden?

Ist unser Kind klein, sind wir begeistert über jeden Erfolg. Wir sind verzückt, wenn es uns anlächelt oder zum ersten Mal „Mama“ oder „Papa“ sagt; wir freuen uns, wenn unser Baby sein „Bäuerchen“ macht; wir feuern es an, wenn es versucht, die ersten selbstständigen Schritte zu tun, wir motivieren es, mit dem Bobbycar, Dreirad oder Laufrad zu fahren; wir sind begeistert, wenn es zum ersten Mal erfolgreich auf die Toilette geht.

Ist das Kind älter, überwiegt oftmals die Kritik: Unser Kind ist laut, unser Kind stört uns, wenn wir gerade nicht gestört werden wollen, das Zimmer ist nicht aufgeräumt, das Kind folgt nicht, es hilft nicht mit zu Hause, es erledigt seine Hausaufgaben nicht … wir könnten diese Liste weiter fortsetzen, nicht wahr.

Und häufig übersehen wir in diesem Momenten, wie liebenswert unser Kind ist. Ich möchte hier W. Livingston Larned mit einem sehr berührenden Text (Im Original „Father forgets“) zitieren:

 

Vater vergisst…

Hör zu, mein Sohn, ich spreche zu dir, während du schläfst, die kleine Faust unter der Wange geballt, die blonden Löckchen verklebt auf der feuchten Stirn. Ich habe mich ganz allein in dein Zimmer geschlichen. Vor ein paar Minuten, während ich in der Bibliothek über meiner Zeitung saß, erfasste mich eine Woge von Gewissensbissen. Reumütig stehe ich nun an deinem Bett.

Ich musste daran denken, dass ich böse mit dir war, mein Sohn. Ich habe dich ausgescholten, während du dich anzogst, weil du mit dem Lappen nur eben über dein Gesicht gefahren bist. Ich stellte dich zur Rede, weil deine Schuhe schmutzig waren. Ich machte meinem Ärger hörbar Luft, weil du deine Sachen auf den Boden fallen ließest.

Auch beim Frühstück fand ich manches auszusetzen. Du verschüttetest den Inhalt deiner Tasse. Du schlangst das Essen hinunter. Du stütztest die Ellenbogen auf den Tisch. Du strichst die Butter zu dick aufs Brot. Als du zu deinen Spielsachen gingst und ich mich auf den Weg zur Arbeit machte, da hast du dich umgedreht, gewinkt und mir zugerufen: „Auf Wiedersehen, Daddy!“ doch ich runzelte die Stirn und gab zur Antwort: „Halte dich gerade und mach keinen solchen Buckel!“

Am späten Nachmittag ging es von neuem los. Als ich die Straße heraufkam, sah ich, wie du auf dem Boden und mit Murmeln spieltest. Die Strümpfe waren an den Knien durchgewetzt. Ich beschämte dich vor deinen Freunden und befahl dir, vor mir her ins Haus zu gehen. Strümpfe sind teuer – wenn du sie selber kaufen müsstest, würdest du mehr Sorge dazu tragen! Das, mein Sohn, warf dir dein Vater vor!

Weißt du noch, später, als ich meine Zeitung las, da kamst du in die Bibliothek, schüchtern, in deinen Augen eine Spur von Traurigkeit. Als ich über den Rand der Zeitung blickte, ungeduldig, weil ich nicht gestört sein wollte, da bliebst du in der Tür stehen. „Was willst du?“ schnauzte ich dich an.

Du sagtest nichts, stürmtest nur mit einem Satz durchs Zimmer, warfst mir die Arme um den Hals und küsstest mich, und deine kleine Arme drückten mich mit einer Zuneigung, die Gott selber in dein Herz gepflanzt hat und die trotz aller Vernachlässigung immer weiterblühte. Plötzlich warst du weg, ich hörte dich die Treppe hinauftrappeln.

Kurz nachdem du weggegangen warst, mein Sohn, glitt mir die Zeitung aus den Händen, und eine grauenhafte Angst erfasste mich. Was war aus mir geworden? Vorwürfe und Tadel ohne Ende – damit vergalt ich dir, dass du ein Kind warst. Nicht dass ich dich nicht liebe – ich habe nur zu viel von dir erwartet und dich nach dem Maßstab meiner eigenen Jahre beurteilt, als ob du schon erwachsen wärst.

Dabei ist doch so manches an dir gut und schön und echt gewesen. Dein kleines Herz war groß wie der erwachende Tag hinter den Hügeln. Das zeigte sich in deinem plötzlichen Entschluss, auf mich zuzustürmen und mir einen Gutenachtkuss zu geben. Das ist das Wichtigste, mein Sohn, alles andere zählt nicht mehr. Ich bin in der Dunkelheit an dein Bett geschlichen und habe mich beschämt daneben hingekniet.

Das ist ein schwaches Bekenntnis; aber ich weiß, du würdest nicht verstehen, was ich meine, wenn ich dir alles bei Tageslicht erzählen würde. Doch von morgen an werde ich ein richtiger Daddy zu dir sein. Wir werden dicke Freunde werden, und ich werde mit dir traurig sein, wenn du traurig bist und mit dir lachen, wenn du lachst. Eher werde ich mir die Zunge abbeißen, als ein vorwurfsvolles Wort aus meinem Mund zu lassen. Und unablässig werde ich mir sagen: „Er ist ja noch ein kleiner Junge, nichts als ein kleiner Junge!“

Ich fürchte, ich habe dich als Mann gesehen. Doch wenn ich dich jetzt anschaue, wie du müde und zusammengekauert in deinem Bettchen liegst, dann sehe ich, dass du noch ein kleines Kind bist. Erst gestern noch trug dich deine Mutter auf dem Arm, und dein Köpfchen lag an ihrer Schulter. Ich habe zu viel von dir verlangt, viel zu viel.

 

Quelle:

Livingston Larned, W., Vater vergisst; im Original Father forgets